Automotive für ein neues Zeitalter: lokalisierte Fertigung, Lieferketten und neue Geschäftsmodelle

Tomáš Svoboda Aimtec
22. 6. 2021 | 6 Minuten Lesen

Seit über einem Jahr erlebt die Welt eine große Belastungsprobe und kämpft mit den Folgen der Pandemiebekämpfungsmaßnahmen. Die Pandemie hat gezeigt, wie verletzlich die globalen Produktionsstrukturen und Lieferketten in der Automobilherstellung sind. Darüber hinaus durchläuft die Branche den größten Wandel des Jahrhunderts – der Elektromotor ist dabei, den Verbrennungsmotor schrittweise abzulösen.

Problematisch ist nicht nur die rückläufige Nachfrage, die mit Ausnahme von China nur langsam wieder Fahrt aufnimmt, auch zahlreiche andere Veränderungen machen der Autoindustrie das Leben schwer. Dazu gehören die Schließung von Werken, unregelmäßige Zulieferungen, fehlende Chips 8, steigende Logistikkosten 2 und die geplante Einführung einer CO2-Steuer9 für Importe in die EU aus „nicht-grünen“ Ländern. 2020 und 2021 waren ein Schock vor allem für Lieferkonzepte, die bis dahin äußerst effektiv nach dem Just-in-Time-Prinzip funktionierten. Diese Situation warf ein Schlaglicht auf das große Fragezeichen, welches über der Belastbarkeit des jahrzehntelang entwickelten Systems steht.

Zur „neuen Normalität“ soll Mobilität als Service werden, den Elektrofahrzeuge (und später autonome Fahrzeuge) gewährleisten.

 

Global market share of light vehicles by power train

Quelle: bcg.com

Die erwähnten Umstände sorgen außerdem für eine wesentliche Veränderung in der Fahrzeugnutzung, wo bislang ein PKW mit Verbrennungsmotor in Privatbesitz als Standard galt. Zur „neuen Normalität“ soll Mobilität als Service3 werden, den Elektrofahrzeuge4 (und später autonome Fahrzeuge) gewährleisten. Erstausrüster (OEM), ihre Zulieferer, Händler, aber auch Dienstleister in der Automobilbranche müssen sich daher auf eine ganz neue Situation einstellen, die Anfang 2020 noch undenkbar war. Alle Akteure stehen vor einer fundamentalen Herausforderung in Gestalt einer radikalen Änderung ihrer Geschäftsmodelle.

Von GLOBALisation hin zu GLOCALisation

Die Experten von der Unternehmensberatung Roland Berger sind überzeugt, dass Automobilhersteller ihre globalen Strukturen neu überdenken müssen. In welche Richtung wird sich die Branche entwickeln? Die Globalisierung in ihrer bisherigen Form ist Vergangenheit und wird durch „Glocalisierung“ ersetzt. Was bedeutet das in der Praxis?

The transregional transport of vehicles increases complexity for OEMs and heightens transport costs and CO2 taxes

Quelle: rolandberger.com

Globale Fertigungs- und Lieferketten sollen nach und nach stärker lokalisiert werden, Fahrzeugherstellung, einschließlich Zulieferung, werden viel näher am Endverbraucher stattfinden. Just-in-Time-Konzepte mit minimalen Vorräten, wenn bestimmte Teile über mehrere Kontinente transportiert werden, sollen durch robustere Strategien10 mit lokalen Lagern und höheren strategischen Reserven von Hauptkomponenten ersetzt werden. Dadurch entsteht eine stabilere Lieferkette, die künftigen Schocks, wie Handelskriegen, steigenden Transportkosten oder Mangel an strategisch wichtigen Komponenten, besser standhält. Darüber hinaus sollen interkontinentale Warenlieferungen aus sog. nicht-grünen Ländern künftig mit einer speziellen Einfuhrsteuer (auf nicht umweltkonforme Produktion) belastet werden.

Experten sagen auch voraus, dass Fahrzeughersteller angesichts des Drucks auf die Erhöhung der Produktionseffektivität und Kostensenkung gezwungen sein werden, die Komplexität der Fahrzeuge einzuschränken und eine stärkere Standardisierung ihrer Modelle zum Nachteil kundenspezifischer Varianten vorzunehmen.

Rising transport costs will make targeted local sourcing crusial to sustainably reduce costs in the comin years

Quelle: rolandberger.com

Vertikale Konsolidierung der Lieferkette

Gemäß einer Studie des Beratungsunternehmens Deloitte5 erwägen OEM und ihre Tier-1-Lieferanten eine weitere Konsolidierung der gesamten Lieferkette in konkreten Territorien, um interregionale Logistikrisiken zu minimieren und Kosten nachhaltig zu senken.

Die vertikale Konsolidierung wird außerdem als Instrument zur Stabilisierung rückläufiger Gewinne in Erwartung eines niedrigeren Absatzes in den Folgejahren gesehen. Unternehmen werden versuchen, mehr Umsatz aus jedem verkauften Fahrzeug durch Anbieten weiterer (digitaler) mobilitätsbezogener Dienstleistungen zu generieren. Diese Überlegung bestätigt beispielweise der CEO von Continental, wenn er behauptet, dass „…die neue Strategie nicht darin besteht, mehr Fahrzeuge zu verkaufen, sondern den Wert zu steigern, den die Automobilindustrie Verbrauchern bieten kann.“ 1 In eine ähnliche Richtung zielt beispielsweise die neue Strategie von Renault6, welche treffend lautet: „From chasing volume to creating value.”

Während die Hersteller bei Fahrzeugen mit konventionellem Antrieb gewohnt waren, Teile aus vielfach entfernten Enden der Welt heranzuschaffen, wird bei Elektromobilen die Lokalisierung der Produktion von Bedeutung sein.

Wenn Fahrzeughersteller entscheiden, wo künftig Elektroautos produziert werden sollen, werden auch die Standorte sog. Batterie-Gigafactories eine Rolle spielen. Elektromobile sollten in der Nähe dieser Werke gefertigt werden. Der frühere Chef von Aston Martin erklärte zu diesem Thema gegenüber Financial Times7: „Während die Hersteller bei Fahrzeugen mit konventionellem Antrieb gewohnt waren, Teile aus vielfach entfernten Enden der Welt heranzuschaffen, wird bei Elektromobilen die Lokalisierung der Produktion von Bedeutung sein. Der Transport einer hunderte Kilo schweren Batterie aus Asien ist einfach viel zu teuer. Alle Hersteller werden daher in diesem Jahrzehnt Fabriken und neue Lieferketten errichten.“ Den Bau einer Gigafactory strebt auch die Tschechische Republik an.11

Neues Produktionskonzept

Die Automobilproduzenten müssen mit einer Änderung ihres Produktionsdenkens auf die neue Situation reagieren. Fahrzeuge werden seit über 100 Jahren traditionell in großen Fabriken am Fließband gefertigt und anschließend auf den einzelnen Märkten vertrieben. In Anbetracht der Notwendigkeit flexiblerer Produktionsnetzwerke, die in der Lage sind, auf eine veränderte Nachfrage zu reagieren, müssen aber neue Fertigungskonzepte implementiert werden. Neue Akteure im Bereich der Elektromobile entwickeln bereits disruptive Modelle, die lokale Kleinserienfertigung ermöglichen. Das könnte auch ein Weckruf für etablierte Autobauer sein und ihre Denkweise verändern.


Quellen in englischer Sprache:

1. Continental rules out deeper job cuts over electric car shake-up. Financial Times [online].
2. Higher Shipping Costs Are Here to Stay, Sparking Price Increases. Bloomberg [online].
3. What is Mobility-as-a-Service. ŠKODA Auto DigiLab [online].
4. How global electric car sales defied Covid-19 in 2020. IEA [online].
5. Value recovery in the automotive industry: Maximising value from non-core assets. Delloite [online].
6. RENAULUTION: A NEW STRATEGY FOR GROUPE RENAULT. Groupe Renault [online].
7. UK carmakers after Brexit: a race to attract battery production. Financial Times [online].

Quellen in tschechischer Sprache:

8. Nedostatek čipů zastavuje výrobu, automobilky přijdou o miliardy. IDnes.cz [online].
9. Brusel chystá daň z uhlíku. Zdražila by dovozy zboží z nezelených zemí. IDnes.cz [online].
10. Výrobce čipů Infineon automobilkám radí, ať změní dodavatelský řetězec. Investiční web [online].
11. Havlíček (MPO): ČEZ jedná s Volkswagenem o stavbě gigatovárny na baterie v severních Čechách. SolarniNovinky.cz [online].

Artikel teilen

Top News aus Logistik, IT und Produktion

Melden Sie sich für das Aimtec Insights an!

Mit Anmeldung zum Newsletter erkläre ich meine Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Daten.

Erhalten Sie regelmäßig aktuelle News aus Logistik, Produktion
und IT per E-Mail!

Für das Aimtec Insights anmelden

Mit Anmeldung zum Newsletter erkläre ich meine Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Daten.

Das könnte Sie auch interessieren

loading